ZWEIMAL PULCINELLA

Adaptionen im Film und bei Giorgio Agamben

Ein Film und ein Buch führen Pulcinella in die Gegenwart, dieses vogelnasige, weißgekleidete Wesen aus Neapel, Maske der Commedia dell’arte, aber auch mythische Figur der Vergangenheit.

In seinem Märchen- und Dokumentarfilm Bella e perduta (2015) lässt Pietro Marcello dieses Zwischenwesen einen jungen Wasserbüffel durch die so schöne wie verlorene Landschaft Kampaniens führen. Der Vorspann stellt Pulcinella als »maschera della tradizione campana, Zwischending zwischen den Lebenden und den Toten« vor, und bereits die Eingangssequenz verweist darauf, wie konkret die Rede vom Tod hier gemeint ist. Sie zeigt den Weg eines Büffels durch labyrinthische Schlachthausgänge und springt von dort in die Welt der Pulcinella-Figuren, die gleichsam kaserniert unter dem Vesuv hausen.

Der Filmstill (Abb. 1) zeigt, wie zwei Pulcinella versuchen, einen Arlecchino in ihr Kartenspiel einzubinden. Die lombardische Maske versteht die Gesten und Spielregeln der kampanischen Figuren jedoch nicht: Allegorie scheiternder Kommunikation zwischen Nord- und Süditalien, wie ein italienische Kritiker vermutet?[1]Vgl. Giovanni Careri, »Bella e perduta di Pietro Marcello«, in: Fata Morgana. Quadrimestrale di cinema e visioni  30 (2016).

Abb. 1 — Zwei Pulcinella beim vergeblichen Versuch, einem Arlecchino das Kartenspiel beizubringen (Bella e perduta, Filmstill, 00:04:19)

Tatsächlich findet sich noch ein weiterer Hinweis auf den Norden: Der liegende Pulcinella zur Linken, mit dem typischen prallen Bauch des Maßlosen, der sich an Gnocchi überfressen hat, streicht über eine Kopie von Giandomenico Tiepolos La partenza di Pulcinella. Seine Hand berührt genau genommen die Darstellung eines Pulcinella, der dieselbe Aufgeblähtheit zeigt (Abb. 2).

Giandomenico Tiepolo, La partenza di Pulcinella (Agamben: Pulcinella, S. 12).

Bei Tiepolos Bild, das hier als Poster an der Wand hängt, handelt es sich um eines jener Fresken, mit dem der venezianische Maler gegen Ende des 18. Jahrhunderts seine Villa verzierte. Das hier Wiedergegebene vollendete er 1797, im Jahr des Untergangs der Republik Venedig.

Konstellation als Form des Komischen: Giorgio Agamben

Mit dem Abdruck eben jenes Bildes lässt Giorgio Agamben sein ungewöhnliches, bunt illustriertes Buch Pulcinella ovvero Divertimento per li regazzi beginnen.[2]Giorgio Agamben, Pulcinella ovvero Divertimento per li regazzi in quattro scene, Roma: Nottetempo 2015.

Bereits der Titel greift unmittelbar eine Formulierung Tiepolos auf. Dieser hatte, ebenfalls 1797, unter dem Titel Divertimento per li regazzi ein Album begonnen. Darin verfolgte er in 104 Zeichnungen den Lebenszyklus Pulcinellas, von der Geburt aus einem Truthahnei bis zum Tod. Die Frage, mit der der Philosoph und Römer Agamben an das Werk des venezianischen Malers herantritt, ließe sich auch ihm selbst stellen: Warum diese plötzliche und leidenschaftliche Fixierung auf eine süditalienische Maske?

Tiepolos Hinwendung zu Pulcinella versteht Agamben als »schlichte Meditation über das Ende«[3]Ebd., S. 17. — über das eigene Ende (er starb 1804) und das seiner Heimat (des einst so mächtigen Venedig). 

Um es kurz zu machen: Agamben nimmt mit Tiepolo eine Verschiebung der Endzeitfigur von Christus zu Pulcinella vor. In seiner Auseinandersetzung mit der Endzeit optiere Tiepolo für das Lachen, für ein Lachen, das nicht aus gelungener, sondern aus gescheiterter Kommunikation erwächst – wie es für die Späße Pulcinellas typisch ist. Wenn es in er Bibel heißt: »So wollte er [Gott] die Fülle der Zeiten herbeiführen und in Christus alles zusammenfassen« (Eph. 1, 10), wie Agamben zitiert, so erfolgt mit Tiepolos bildlicher ›Zusammenfassung in Pulcinella‹ eine Verschiebung vom Eschatologischen ins Komische. Das Abendmahl, gnocchi e vino im Übermaß statt Brot und Wein, wird nicht mehr ›zum Gedächtnis‹ begangen, sondern im Exzess, der nicht nur zu Verdauungsproblemen führt, sondern zu einer neuen und anderen Erfahrung von Geschichte, Leben und Zeit[4]Ebd., S. 18.

Dass das Lachen den Tod zwar nicht aufhebt, aber auch nicht mit ihm endet, zeigt die letzte der 104 Zeichnungen aus Tiepolos Album (Apparizione della tomba di Pulcinella): Statt mit Auferstehung und ewigem Leben endet der Lebenszyklus Pulcinellas mit einem letzten Scherz, wenn sein gleichsam aus dem Grab geplumpstes Skelett eine Gruppe lebender Pulcinella in Aufruhr und Schrecken versetzt. Des Philosophen conclusio: »Im Arkadien Pulcinellas ist der Tod immer schon da, aber so, als gäbe es ihn nicht.«[5]Ebd., S. 87.Diese Sentenz zeigt das wenig philosophische Vorgehen Agambens: Er argumentiert nicht, sondern erstellt Konstellationen — erfindet Dialoge zwischen Pulcinella und Tiepolo, erzählt, wie er Wolken beobachtet, zitiert Platon, Nietzsche, Croce und lässt die zahlreichen, hervorragend reproduzierten Farbabbildungen sprechen. Agamben wird analytisch, etwa wenn er Tiepolos Erschießung Pulcinellas mit Goyas Erschießung der Aufständischen vergleicht[6]Ebd., S. 73-75., oder aphoristisch, wenn er beispielsweise vermutet, Nietzsche wäre nicht wahnsinnig geworden, hätte er sich für Neapel und Pulcinella, und gegen Turin und Zarathustra entschieden[7]Ebd., S. 21.. Die Form dieses Buches ist nicht diskursiv; es ist gleichzeitig einladend durch seine Offenheit und seinen Bildreichtum und ausschließend, da voraussetzungsreich. So verwirklicht Agamben auch formal, wovon er konzeptionell ausgeht, nämlich dass die Kommödie — im Gegensatz zur Tragödie — der Philosophie so nah ist, dass sie am Ende mit ihr verschmilzt. Und die Konstallation, nicht die Argumentation, ist die Form des Komischen.

Pietro Marcellos Film Bella e perduta (2015)

Auch Bella e perduta funktioniert über Konstellationen. Weder Kamera noch Erzählung folgen linear der Reise von Kampanien nach Etrurien, zu der Pulcinella mit dem Wasserbüffelkalb Sarchiapone aufbricht. So wechseln dokumentarische Aufnahmen mit solchen aus der Pulcinella-Behörde und verschwimmen mit dem Auftauchen der mythischen Maskenfigur in der ›realen‹ Welt Kampaniens zu einer Zwischenwelt. 

Diese war in der ursprünglichen Konzeption des Regisseurs Pietro Marcello nicht vorgesehen. Er hatte einen Dokumentarfilm geplant über Tommasso Cestrone, einen Hirten, der sich der Erhaltung des verfallenden und von der Camorra regelmäßig geplünderten Bourbonen-Palastes Reggia di Carditello nahe der kampanischen Provinzhauptstadt Caserta verschrieben hatte. Als ›Engel von Carditello‹ hatte Cestrone versucht, sich ohne staatliche Mittel gegen die Zerstörung und Vermüllung der Residenz und ihrer Umgebung zu stemmen. Nebenbei kam es vor, dass er männliche Wasserbüffel aufnahm, die, weil nutzlos für die Mozzarellaproduktion, regelmäßig ausgesetzt und ihrem Schicksal überlassen werden. Als Cestrone während der Aufnahmen für den Dokumentarfilm plötzlich verstarb, stand das Projekt vor dem Ende – und konnte erst durch die Einführung Pulcinellas vollendet werden.

Die Erzählung beginnt damit, dass in der Pulcinella-Behörde das Gesuch Tommaso Cestrones eingeht, dass einem von ihm geretteten Büffelkalb namens Sarchiapone die Fähigkeit zu sprechen zugestanden werde, damit es seine Geschichte erzählen könne. Als Vermittler wird Pulcinella nunmehr zu Sarchiapone geschickt, der ihn und den er versteht. Mit dem Büffel macht die Maske sich auf den Weg nach Norden, um ihn in Sicherheit zu bringen, und vertraut ihn einem Hirten an — der Sarchiapone jedoch mästen und ausgerechnet für ein Festmahl zu Ehren Tommaso Cestrones schlachten lassen will. Schnell zeigt sich, wie prekär das rettende Dazwischen ist und dass der Rettungsversuch über das Mythisch-Märchenhafte auch scheitern kann, da es in einer Dialektik der Grausamkeit gefangen bleibt, ohne Möglichkeit zur Aufhebung im Guten.

Der Wendepunkt ist Pulcinellas Weigerung, weiter das zu sein, was die Essenz der Figur ausmacht: eine Maske. Pulcinella kann es ohne Maske nicht mehr geben, wie er selbst feststellt — »Pulcinella non c’è più… senza maschera«[8]1:08:35.

Dieser endgültige Übertritt in die Welt der Menschen verunmöglicht die Kommunikation mit der Tierwelt. So muss Sarchiapone verstummen, weil er seinen Übersetzer und dieser ihn nicht mehr verstehen kann. Die Unmöglichkeit der Kommunikation ist hier nicht mehr komisch, sondern fatal, denn mit dem Ende der Möglichkeit, seine Geschichte zu erzählen, endet auch die Geschichte des Wasserbüffels, der nicht mehr vor dem Schlachthaus gerettet werden kann.Die prekäre Einheit, die Pulcinella für einen Augenblick hergestellt hatte, zerfällt, und damit zerfällt auch der Film in den letzten Einstellungen wieder zwischen Realismus (Sarchiapones Schlachtung) und Utopie (Pulcinella als fröhlicher Hüter einer Büffelherde), wobei aus der Vergangenheit ein ganz in pulcinelleskes Weiß gekleideter Tommaso Cestrone mit Tränen in den Augen noch einmal in die Kamera blinzelt.

Immer dazwischen

Zurück zum Pulcinella, der zu Beginn von Bella e perduta den Nachdruck von Tiepolos Partenza di Pulcinella berührt. Die flüchtige Berührung der Darstellung eines anderen Pulcinella aus dem 18. Jahrhundert und aus dem Veneto verbindet Nord und Süd, Vergangenheit und Gegenwart, genau wie Pulcinella Totes und Lebendiges, Tier- und Menschenwelt verbindet. Pulcinella steht dabei für das verbindende Dazwischen, weil er selbst im Uneigentlichen verbleibt. Sein Wesen ist, keines zu haben. Dafür steht ganz praktisch, aber auch sinnbildlich, die Maske. 

Mit Agamben lässt sich sagen, dass Pulcinella mit der ewiggleichen Vogelnasenmaske für die Möglichkeiten des ungelebten Lebens steht, die dem Menschen, dem jedes Erlebnis ins unmaskierte Gesicht gezeichnet bleibt, für immer entschwunden scheinen. Wenn der Charakter des einzelnen Menschen, gleich seinem Antlitz, die Spuren dieser Formung trägt, so wird umso deutlicher, dass Pulcinella keinen carattere hat und sein kann, sondern ›nur‹ eine maschera: »Pulcinella ist der zerimoniöse Abschied von jedem Charakter, dem es einfach nur gelingt, das Nicht-Gelebte auszuleben, ohne es als Schickal anzunehmen«[9]Ebd., S. 113..

Pulcinella hat keinen Willen und keinen Charakter, aber genau darum kann er auch die Welt nicht retten, Venedig nicht und die Wasserbüffel nicht; er kann nur für einen Moment des Trostes im Dazwischen sorgen.

Zuerst erschienen in: Zibaldone 65 (2018), S. 131–136.

References
1Vgl. Giovanni Careri, »Bella e perduta di Pietro Marcello«, in: Fata Morgana. Quadrimestrale di cinema e visioni  30 (2016).
2Giorgio Agamben, Pulcinella ovvero Divertimento per li regazzi in quattro scene, Roma: Nottetempo 2015.
3Ebd., S. 17.
4Ebd., S. 18.
5Ebd., S. 87.
6Ebd., S. 73-75.
7Ebd., S. 21.
81:08:35
9Ebd., S. 113.